Zerstörte Leben

Es waren sinnbildlich schwere Verkehrsunfälle, mit Fahrerflucht der damals Verantwortlichen, bis heute.“ Zitat eines ehemaligen Gemeindmitglieds

Ist hier die Forderung, einander zu vergeben, wirklich passend?

In der IG sind auch Dinge passiert wie überall auf der Welt, entstanden aus menschlichen Schwächen und Unzulänglichkeiten, die man gerne großzügig vergeben kann. Das ist schön und gut. Aber das war nicht alles. Wenn Menschenleben zerstört werden, Kinder von klein auf traumatisiert, hat das eine völlig andere Dimension.

Was ich nicht begreife ist, dass, trotz Visitation, veröffentlichter Herder-Korrespondenz-Recherchen, BR-Berichte, SZ-Artikeln etc. diese Dimension oftmals absolut ausgeblendet und verleugnet wird.

Ich weiß von Gemeindekindern, deren Leben zerbrochen ist, sie können kein selbstbestimmtes „normales“ Leben führen, einige sind psychisch krank in unterschiedlichen Ausprägungen, das sind bleibende Folgen. Hintergrund dabei sind meines Erachtens insbesondere (früh-)kindliche Traumata.

Hier gibt es kein großzügig zu gewährendes Vergeben, nicht, solange die dafür Verantwortlichen nicht hingegangen sind um all diese Not sich wirklich anzusehen, sich das Wissen darum zuzumuten, anzuerkennen, um Vergebung zu bitten und alle Hebel in Bewegung setzen, diese Not zu lindern. Selbst dann stünde es allein im Empfinden eines jeden einzelnen Betroffenen, ob er vergeben kann, dass zumindest Jahre, Jahrzehnte seines Lebens zerstört waren für ein theologisches Experiment (Neue Familie…) und er den Rest seines Lebens mit den Folgen zu kämpfen hat – jeden Tag aufs Neue. Doch wer ist zu Lydia W. gegangen, sie zu fragen, wie es ihr geht, was sie erlebt hat? Oder zu mir? Mir persönlich hat ein führendes Gemeindemitglied gesagt, nachdem ich krank wurde: Du weißt doch, das war für eine höhere Sache! Aus dieser Perspektive ist es vermutlich eine Ehre, wenn man deswegen erkranken darf oder einfach ein in Kauf zu nehmender Kollateralschaden ist, nicht der Rede wert. Dieses brutale absolute Ausblenden mancher Folgen des theologischen Experimentes, welche die damals Schutz-befohlenen Kinder anschließend jahrzehntelang und noch heute mit sich tragen – will das christlich sein? Ich spreche hier nicht von Wehwehchen, die sich mit freundlichem Zuspruch heilen lassen, sondern es geht ums nackte Überleben, buchstäblich.

Ja, es ist richtig, dass auch unsere Eltern schuld sind, mit gewissen Einschränkungen, auf die ich noch eingehen werde. Sie haben es zugelassen, dass wir ständig umziehen mussten, in immer wieder neue Konstellationen, ständig mit anderen Leuten als „Bezugspersonen“ lebten. Dass sie den damals Verantwortlichen glaubten, wenn wir in der IG irgendwo verwahrt sind, dann ist es für uns am Besten. Dass sie nicht auf die Idee kamen, dass ein Kind ein Zuhause braucht, Sicherheit, Geborgenheit, was der nächste Tag bringen wird (einen Umzug?) und die Mutter, die es liebt…

Doch standen die Eltern auch sehr unter gemeindetheologischem Druck, z.B.:

  • „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ – zu deutsch: Der Glaube der Eltern wurde am Benehmen ihrer Kinder gemessen.
    • Kein Wunder, wenn sich ein Kind wie die Schande der Familie fühlt, wenn es nicht erkennen kann, dass die IG der wunderschönste Ort der Welt sei oder vielleicht pubertär ist oder einfach mal die Welt „da draußen“ kennen lernen möchte.
    • Andere Kinder haben gelernt, ihre Gefühle und ihr Selbst zu verleugnen um nicht ständig Probleme zu erzeugen, vielleicht auch, um ihre Eltern zu schützen oder um irgendwie durchzukommen. Der Weg zurück von einem Gemeindekind zu seinem wirklichen Selbst hier in dieser Welt ist ein schwieriger.
  • Neue Familie – bedeutet: Auflösung der Herkunftsfamilie in die Neue Familie, was z.B. bedeuten konnte: andere Menschen erziehen anderswo mein Kind und wenn es sich dort schlecht benimmt, bedeutet dies, dass ich ungläubig bin.

Die Gemeindetheologie und -praxis öffnete meines Erachtens den Riegel für geistlichen Missbrauch: Klaus Mertes beschreibt geistlichen Missbrauch als „tiefer liegende Verwechslung von geistlichen Personen mit der Stimme Gottes selbst“[i] In der IG war der Glaube zutiefst verinnerlicht, in der Stimme der IG oder von Frau Wallbrecher sei die Stimme Gottes zu hören. So erhielten die Weisungen der IG, oftmals in den Gemeindeversammlungen verkündet, eine ungebührliche – göttliche Autorität, der als solcher kaum widersprochen werden konnte.

Prof. Dr. Matthias Reményi, Inhaber des Lehrstuhls für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft in Würzburg, erklärte einer Ex-IG-lern in Briefen[ii], dass er in der Inanspruchnahme von Lk 10,16 „Wer euch hört, hört mich“ das zentrale ekklesiologische oder auch offenbarungstheologische Problem der KIG sehe. Er stellt die Frage, wer die Macht habe, Gottes Willen genau zu erkennen, zu formulieren und Gehorsam dafür einzufordern. Hier sehe er „das Grundproblem aller kirchlichen Autorität[iii]“. In kleinen, in sich geschlossenen Gemeinschaften, welche für sich beanspruchen, einen „privilegierten Zugang zur Offenbarung zu haben“[iv], wirke sich diese Problematik erheblich verstärkt aus. Zu sehen sei dies, wenn Leitungspersonen der IG sich die Kompetenz nach Lk 10,16 anmaßten und dazu nutzten, anderen Gemeindemitgliedern konkrete Vorschriften zur Lebensgestaltung zu machen. In dieser Problematik lebten unsere Eltern wie wir Kinder.

Ich erinnere mich zudem, wie Frau Wallbrecher mit Nachdruck sagte, dass Eltern ihre Kinder in keinster Weise unterstützen dürfen, wenn diese die IG verlassen. Die einen Eltern haben sich um diese Weisung darum herum gemogelt, andere sie befolgt -Musterschülereltern. Konträr dazu gab es auch Jugendliche, die in die Welt geschickt wurden.

Als dann junger Mensch z.B. zu wissen, dass man keine Unterstützung der Eltern erwarten darf, kein Geld in der Tasche hat, keine eigene Wohnung, keine Arbeit außerhalb der IG, keine Berufsausbildung, auf die man gerne außerhalb der IG zurückgreifen möchte (statt Hauswirtschafterin), dass man keinen Menschen, in der so schlechtgeredeten Welt „da draußen“ kennt, der einen unterstützen würde (damals auch kein Internet) – nicht einmal wissend, wie die Welt „da draußen“ überhaupt funktioniert – wie sollte man da frei entscheiden und Verantwortung für sein Leben übernehmen? Für mein Verständnis lebten einige von uns in einem absoluten Abhängigkeitsverhältnis, beladen mit Traumata, emotionalem und geistlichem Missbrauch. Aus diesen Verstrickungen sich rein äußerlich zu befreien hat für einige oft viele Jahr gedauert. Manch ein „Ausstieg“ war auch sehr abrupt – endete oder begann für manche z.B. in einer Klinik, auf der Straße oder im Wald, wenn man Glück hatte, auch in einer eigenen Wohnung. Der innere Prozess, die Aufarbeitung, das echte Frei-Werden ist dann nochmal eine eigene, sehr langwierige Sache.

Das muss man erst einmal alles überleben und verdauen. Schön wäre es schon mal, wenn man uns ernst nimmt. Das könnte ein Anfang sein.

Natürlich spreche ich nur von meinen Erfahrungen und dem, was ich in Gesprächen von anderen erzählt bekommen bzw. miterlebt habe. Es gibt auch glücklichere Fälle, sehr unterschiedlich z.B. je nach Hierarchie, wie anerkannt und „geehrt“ manche Eltern waren, dem Alter, als man zur IG kam (ob schon eine Bindung an die Eltern bestand), zudem änderten sich die Lebensbedingungen für Kinder in der IG im Laufe deren Geschichte.

 

[i] https://www.feinschwarz.net/hilfe-die-schaden-anrichtet-geistlicher-missbrauch-in-der-katholischen-kirche/

[ii] Diese Briefe liegen der Verfasserin vor

[iii] persönlicher Brief von Prof. Remenyi vom 25.11.21

[iv] Ebd.

 

 

Dieser Text entspricht den Erfahrungen und Erlebnissen der Autoren. Die Website exigler.de distanziert sich von allen Missverständnissen und rechtlichen Verpflichtungen.

Wir bitten alle Betroffenen, sich auf die für sie geeignete Weise Hilfe zu holen. Besonders gut und wichtig wären weitere Berichte – wir bitten Euch darum.