Buchrezension „Toxische Gemeinschaften“

Butenkemper, Stephanie: Toxische Gemeinschaften. Geistlichen und emotionalen Missbrauch
erkennen, verhindern und heilen. Freiburg: Herder, 2023


Die an einer katholischen Beratungsstelle tätige Therapeutin beginnt mit einer eingrenzenden
Begriffsbestimmung für geistlichen Missbrauch in Anlehnung an die 4 Dimensionen nach Sr.
Katharina Kluitman:


– Grenzüberschreitung (Einmischung, Übergriff)
– Einschränkung (Einengen der Autonomie)
– Idealisierung (Auftrag der Gruppe, Kompetenz der Leitung)
– Entwertung (Disqualifizierung von Mitgliedern)

Anhand einer gestreuten Stichprobe von 8 Personen, die alle als junge Erwachsene in
katholische Gemeinschaften eingetreten waren, wertet sie die Fallgeschichten nach insgesamt
14 Kategorien aus, z.B.- Kontext für den Einstieg
– positiver und negativer Verlauf
– Gründe und Folgen des Ausstiegs


Dabei ermittelt sie drei zentrale Schlüsselthemen:
– Gemeinschaft als Familien-Ersatz
– Sehnsucht nach Orientierung / Lebenssinn
– existentielle Verlustangst / Machtunterwerfung


Sie überträgt Robert Lifton ́s (1961) Beschreibung von mentaler Manipulation bei politischen
Gefangenen auf den innerkirchlichen Kontext:
1. Milieukontrolle (Binnen-Orientierung, Isolation, Überwachung)
2. Exklusivität (Elitebewusstsein, mythische Legitimation von Gruppe und Führungsfiguren)
3. Perfektionismus (Reinheit der Überzeugung, Ächtung von Teilidentifizierten und Kritikern)
4. Reinigungsrituale (Selbstanklage, öffentliche Beichte, Prüfkataloge, Schautribunale)
5. geschlossenes Theoriegebäude (universaler Wahrheits- und Sendungs-Anspruch)
6. Sondersprache (anmaßende Deutungshoheit, ideologische Wertungen, Standardformeln)
7. Priorität des Kollektivs / der Institution (gehorsame Unterwerfung aller Individuen)
8. Letztverfügung über die Existenzberechtigung (Auschlussdrohung erzwingt Verschmelzung)

Sie ergänzt dazu die 4 Ebenen von Steven Hassan (2020) zur „Mind Control“
– Gedankenkontrolle
– Gefühlskontrolle
– Verhaltenskontrolle
– Informationskontrolle


Dass sich emotionaler Machtmissbrauch auch in außerkirchlichen gesellschaftlichen Feldern
ereignet, zeigt sie detailliert auf am
– Machtfeld Pädagogik (Odenwaldschule)
– Machtfeld Leistungssport (olympischer Eiskunstlauf)
– Machtfeld Klimaschutz (Letzte Generation)


Sie widmet ein eigenes Kapitel den Folgen geistlichen Missbrauchs in geistlicher, psychischer,
physischer und sozialer Hinsicht.


Detailliert untersucht sie die Psychologie der Täter*innen und typisiert diese in
böswillig-geschickte / unsicher überforderte und narzisstische Persönlichkeiten.


Praxiserfahren skizziert sie Leitlinien für die Beratung für Betroffene, die letztlich die (Wieder-)
Herstellung der persönlichen Eigenständigkeit zum Ziel hat. Dabei unterscheidet sie
– psychologische Schritte (Stabilisierung, Distanzierung, Entschleierung, Entgiftung,
systemische und biografische Aufarbeitung, Selbst- und Fremd-Akzeptanz) und
– seelsorgerliche Wege (Reflexion der eigenen religiösen Lerngeschichte, Unterscheidung
zwischen toxischen und heilende Gottesbildern mit dem Ziel der spirituellen
Selbstbestimmung)


Das letzte Kapitel gilt der Prävention von geistlichem Missbrauch:
– Aufklärung / Sensibilisierung für Betroffene
– Schutz vor Tätern und missbrauchenden Organisationen
– Gelingensbedingungen für Modelle von heilsamen Gemeinschaften


Die Auseinandersetzung mit dieser ebenso aktuellen wie profunden Analyse und das
Engagement für deren Weiterentwicklung möchte ich insbesondere allen Beteiligten an der
KIG-Tragödie unbedingt empfehlen.

Lesen Sie auch: Studie zum Geistlichen Missbrauch: An alle ehemaligen Mitglieder der ehemaligen KIG:Die Deutsche Bischofskonferenz sowie die Bistümer Osnabrück und Münster fördern ein Forschungsprojekt an der WWU, das insbesondere den spirituellen Missbrauch in geistlichen Gemeinschaften betrachtet.

Hier finden Sie eine Lektüreauswahl und Anregungen zum Thema geistlicher Missbrauch.

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