Mein Leben ist entgleist, trotz aller Anstrengungen

Liebe Gudrun,

ich erinnere mich gut an Dich, obwohl wir wahrscheinlich nie ein Wort miteinander gewechselt hatten. Zum Glück hast Du „die Kurve gekriegt”. Ich nicht. Mein Leben ist entgleist, trotz aller Anstrengungen. Zu ca. 80% wegen der Zeit in der KIG.

Auch nach zig Jahren ist der Reflex in mir: Nein, über die KIG darf man doch nichts Schlechtes sagen. Natürlich ist sie keine Sekte! Sekten sind etwas Anderes… Sind Sekten was Anderes?

Ein Gemeindekind wie du war ich nicht. Für das Zusammenleben in der KIG habe ich mich jedoch – da minderjährig – nie entschieden. Trotzdem lebte ich mehrere Jahre gezwungenerweise dort, weil meine Eltern von dieser Gemeinde angelockt und geblendet wurden. Für mich persönlich war die Gemeinde nie, nicht für einen einzigen Tag attraktiv oder Heimat. Dadurch wurde ich zur Schande meiner Familie.

Bis heute weiss ich nicht, wer genau die Führungspersonen waren, die über das Leben, über Wohnortwechsel, Schulwechsel, Aus- und Einzug der Mitglieder in Integrationshäuser, über die Trennung von Familienmitglieder entschieden hatten. Hier rückblickend einige Gedanken und Fragen von mir, aus meiner Perspektive:

  • Warum bemühte man sich über mehrere Jahrzehnte so sehr, ein/das Paradies auf Erden als „Gesamtprojekt” im kirchlichen Rahmen zu inszinieren? Auf der Erde gibt es kein Paradies!
  • Warum hatte die hochintellektualisierte Elite-Theologie der KIG so einen hohen Stellenwert? Theologie als Luxusgut für Auserwählte?
  • Warum legte man äusserst viel Wert auf Äusserlichkeiten? (edle Stoffe, besondere Muster, Design, Farbberatung, Harmoniesucht, Frisurstil etc.)?
  • Warum sollten Interessierte durch aufwendige, bis zur Vollkommenheit perfektionierte Mehrgängemenüs mit Musikeinlagen bei Gemeindefesten beeindruckt werden?
  • Warum ließen sich erwachsene Mitglieder erniedrigen, sich wie Schachfiguren auf dem Schachbrett der Gemeinde willkürlich hin- und her versetzen, verunsichern, ausbeuten, finanziell abhängig machen?
  • Wie konnten so viele Erwachsene und Eltern ihre Verantwortung freiwillig an die Gemeindeleiter abgeben, die angeblich in jedem Lebensbereich (wie z.B. Kindererziehung) viel kompetenter gewesen sein sollen?
  • Warum wurden die allgemein anerkannten Grundlagen der Psychologie in der KIG über Jahrzehnte ignoriert (s. Kindererziehung)?
  • Wie kann man damit klar kommen, dass man im selben Haus immer wieder mit fremden, wechselnden Menschen unter einem Dach leben musste? Ohne zu wissen, wer, warum, wie lange dort wohnen bleibt?

Ich hatte nie das Gefühl, dass ich dazu gehöre, dass ich angenommen bin, fühlte mich wertlos, minderwertig, einsam und wurde krank. Ich wurde von meiner Familie abgeschottet, irgendwie ertragen, Erwartungen wurden nie definiert, es gab keine persönlichen Gespräche, keine Freunde in meinem Alter. Im Integrationshaus gab es kaum Privatsphäre (kein Zimmerschlüssel), aber ein Zwang nach einer gemeindlich festgelegten stilistischen Harmonie der Hauseinrichtung. Wenn z.B. ein bestimmtes Stoffmuster für ein bestimmtes Haus von irgendeiner Person festgelegt wurde, musste daran strikt festgehalten werden in jedem Raum. Privatbesitz mit abweichendem Stil/Stoff/Muster wurde ohne Diskussion, regelmäßig aus dem eigenen Zimmer entfernt und ausgetauscht mit einem Ersatz, der das „richtige Gemeindemuster” hatte.

Als Volljährige, alleine, ohne Ausbildung, ohne Einkommen verließ ich die KIG. Meine Eltern, die ich vorher informiert hatte, ließ es kalt. Sie nahmen es in Kauf, dass ich als „Abtrünnige” auf der Straße und im Wald übernachten musste. Was ich beruflich machen sollte, war jedem egal. Hauswirtschafts-lehre wurde mir nie vorgeschlagen / angeboten.

Meine Familie ist bis heute zutiefst gespalten. Einige sind der Gemeinde treu geblieben. Sie halten sich nach wie vor für die „wahren Beschützer” des christlichen Glaubens. Andere sind loyal, leben aber ihren eigenen Lebensstil. Ausser mir hat sich bis heute keiner von ihnen, in keinster Form von der KIG distanziert, soviel ich weiss.

 

Liebe Jünger,

wollt ihr mir folgen, eine Gemeinschaft gründen und in die Geschichte eingehen?
Ihr Fischer, strengt euch ab jetzt noch mehr an! Fangt mit der Arbeit eine Stunde früher an! Wer echte Freundschaft zeigen will, gibt mir 80% des Fischfangs ab. Ihr Tischler, legt eure altmodischen Gewohnheiten ab! Fertigt nur noch Meisterstücke nach meinem Geschmack an! Die Gelehrten unter euch sollen sich zusammen schließen. Ich werde euch zu berühmten Priester und Theologen machen! Vorausgesetzt, ihr zahlt mir monatlich 5 Goldmünzen!
Wollt ihr wissen, wie man eine richtige Gemeinde aufbaut? Hört mir gut zu! Ihr seid Auserwählte! Verbrennt eure Kleidungen, verschenkt oder werft eure Hauseinrichtungen auf die Müllhalde! Wer meinen Anweisungen folgt, der wird ab jetzt Kleider aus edlen Stoffen mit bestimmten Mustern tragen, alles farblich abgestimmt. Eure Haare müssen auch viel ordentlicher werden. Richtet eure leeren Wohnungen nach meinem Stil ein, übt notfalls Druck auf eure Familien aus. Wer keine Familie hat, soll bei den Anderen einziehen! Gebt die Kleinkinder zu den Verwandten, sie werden gut für sie sorgen! Eure Frauen sollen unermüdlich arbeiten, von morgens bis abends putzen und kochen, ohne zu klagen. Die Gemeinschaft soll ja wachsen. Nur wer meine Anweisungen ohne Widerrede und restlos befolgt, darf mich zu großen Festessen einladen. Guter Wein und schöne Musik dürfen zu den herrlichen Gerichten nie fehlen! Legt ausserdem großen Wert auf schöne Teppiche, bequeme Kissen und duftende Blumensträuße!
Ihr sollt ein leuchtendes Vorbild für die ganze Welt sein, denn ihr seid besondere Menschen, erhaben über Andere und vom Gottvater unendlich geliebt.

Der Friede sei mit euch.                                                

Euer Jesus

P.s.: Dies ist ein interner Brief, soll weder verbreitet, noch irgendwo in der Wüste vergraben werden. Trägt Sorge, dass er gleich verbrannt wird!

­­­­­ -> Wäre so ein Text in der Bibel möglich? Oder Pech gehabt? Wurde es wirklich gleich verbrannt? 🙂                                                                                                                             

  • Warum betonen viele Menschen, dass sie die Kirche so sehr lieben? Kirche ist ein menschengemachter Konstrukt. Warum genügt es nicht, Gott zu erkennen, seine Gebote einzuhalten, sich selbst und seine Mitmenschen zu lieben? Muss es immer eine Institution sein?
  • Warum meinen die KIG-Mitglieder bis heute, sie sind die „besseren Christen”?
  • Wie soll eine ganze Gemeinschaft nach aussen hin glänzen, wenn manche Menschen dabei innerlich zerbrechen?

Es ist mir verständlich, wenn sich Exigler, die von klein auf in der KIG aufgewachsen sind und leider nichts Anderes von der Aussenwelt erlebt haben, um eine Aufarbeitung, Klärung oder Entschädigung ihrer Vergangenheit bemühen.

Doch es ist mir unverständlich, wenn Menschen, die sich der KIG als Erwachsene mit Lebenserfahrung und aus freiem Willen angeschlossen haben, jetzt mit ihren Fingern auf Verantwortliche / Bischöfe zeigen: „Das hättet ihr nicht zulassen dürfen! Warum wurde die KIG nicht regelmäßig von unabhängigen Personen durchleuchtet?”

15.11.2021.

 

 

Dieser Text entspricht den Erfahrungen und Erlebnissen der Autorin. Die Website exigler.de distanziert sich von allen Missverständnissen und rechtlichen Verpflichtungen.

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