Des Unschuldigen Schuld

Gedanken zum „Hüter des Bruders“

   9.11.2021

Liebe Weggefährten, auch Ihr, die Ihr Wert darauflegt, von mir nicht mehr Weggefährten genannt zu werden, obwohl wir doch Jahrzehnte lang zusammen gingen – besonders für Gudrun und einen unerwarteten Zuspruch, dessen Namen ich nicht nennen möchte, damit es ihm nicht Ärger beschert!

Beim Zusammenkehren der „Trümmer Jerusalems“ war mein Blick zunächst auf das Unrecht gerichtet, dass mir und Monika zugefügt worden ist. – Aber natürlich war die Frage: Wie konnte das im Volk Gottes geschehen? – Gudrun hat einen Beitrag zur Antwort geschrieben: Das Gebot, Hüter des Bruders zu sein, verkehrte sich in der Gemeinde nicht zum Wohl des Bruders, sondern zum Wohl der Gemeinde. Viel Unrecht in der Gemeinde hätte vermieden werden können durch den Bruder, der darauf reagiert hätte.

Die KIG war eine einzige ‚Erfolgsgeschichte‘ – bis zur Akademie Villa Cavalletti , bis zum Lehrstuhl für die „Theologie des Volkes Gottes“ – – – bis zum Schlusspunkt. Zu Zeiten von Frau Wallbrecher hat sie wohl ungebremst die Verantwortung für alles übernommen, was die Gemeinde voran brachte, obwohl es zum Teil sicher nicht zu verantworten war.

Als Frau Wallbrecher nicht mehr geschäftsfähig war, war die baldige Konsequenz, dass die Verantwortlichen – wahrscheinlich zurecht – sich nicht in der Lage sahen, die so groß gewordene Gemeinde zu führen. Der geniale (?) Gedanke war, die Gemeinde auf etwa ein Viertel zu verkleinern und die übrigen drei Viertel z.T. als Mitwirkende Freunde ‚anzuerkennen‘.

Wie es dann mit dem Neuanfang weiterging, wissen nur die ‚auserwählten‘ Baierbrunner.

Was wieder alle wissen, ist die anberaumte Visitation, der die Rest-KIG durch Selbstauflösung aus dem Wege ging: Die erkämpfte kirchliche Anerkennung wurde dahin gegeben. Wofür?

In Gudruns Gedanken zum Gebot, Hüter des Bruders zu sein, sind viele Anregungen zum Bedenken des Weges der Gemeinde: Vielfach fehlte eine Korrektur – im Kleinen wie im Großen.

Statt „Bruder“ benutze ich gern den Begriff des „Weggefährten“. Und da ich oben fragte: „Wie konnte das im Volk Gottes geschehen?“ erinnert es mich an eine Grundfrage der KIG zum Holocaust: „Wie konnte das – trotz Kirche – in einem christlichen Land geschehen?“

Dazu das Gedicht von Gerty Spiess (1977), das sicher viele kennen:

 

„Was ist des Unschuldigen Schuld?

Wo beginnt sie?

Sie beginnt da ,

wo er gelassen, mit hängenden Armen

schulterzuckend daneben steht,

den Mantel zuknöpft, die Zigarette

anzündet und spricht:

‚Da kann man nichts machen‘,

Seht, da beginnt des Unschuldigen Schuld.“

 

Geschrieben für die Aufarbeitung des Holocausts – jedoch nicht nur des Holocausts.

Lasst uns daraus lernen – auch für die Rangeleien der Aufarbeitung!

Der oben genannte Ungenannte schreibt in seinem überraschenden Brief sinngemäß:

„Ich weiß nicht, ob und wie vielleicht auch ich schuldig geworden bin. – Vielleicht dadurch, dass ich  in der gemeinsamen Zeit an unserer Arbeitsstelle nicht interveniert habe, wenn Dir Unrecht geschah?“ So kann man des Unschuldigen Schuld in Betracht ziehen. Danke dafür.

Und es bringt auch mir ein schmerzliches Versagen in Erinnerung:

Aus der Gewissenserforschung kennen wir die Formulierung: Wo habe ich gefehlt? Im Sinne von: falsch gehandelt. Aber oft ist das auch ein Fehlen im wörtlichen Sinn: Nicht zur Hilfe dagewesen, obwohl anwesend gewesen. Einer meiner persönlichen Fälle:

Meine Frau, Monika, kam abends spät von der Arbeit in der Praxis in die Maistraße heim und eröffnete mir: „Ich habe in der Praxis eine Kündigung geschrieben und sie in den Postkorb gelegt. Ich halte es nicht mehr aus.“ – Ich glaube, ich habe nicht sehr viel nachgefragt nach den Ursachen, sondern habe ihr vor allem zugeredet, das nicht zu machen. Wer weiß, ob Du noch einmal so eine gute Stellung findest! Usw. usw.. Am nächsten Morgen sagte mir Monika, sie sei in der Nacht noch einmal zur Praxis gegangen und habe das Kündigungsschreiben weggenommen. – Monika hat sich dann noch mehrere Jahre in der Praxis mit viel Einsatz, mit wenig Anerkennung, mit unfreundlicher Kritik abgemüht, bis sie ihren Entschluss umsetzte: Die Praxis zu verlassen, einen neuen Beruf auszuprobieren und dazu die Ausbildung zu machen, um Kinder hüten zu dürfen.

Es ist schmerzlich zu sehen, dass nicht einmal der Ehemann in der Not zu Hilfe kam. Heute tut es mir sehr leid.

Herzlich grüßt die Weggefährten

Hajo Kindler

 

Lesen Sie dazu auch den Beitrag „Hüter des Bruders“

 

Dieser Text entspricht den Erfahrungen und Erlebnissen des Autors. Die Website exigler.de distanziert sich von allen Missverständnissen und rechtlichen Verpflichtungen.

Wir bitten alle Betroffenen, sich auf die für sie geeignete Weise Hilfe zu holen. Besonders gut und wichtig wären weitere Berichte – wir bitten Euch darum.