Hüter des Bruders

Es klingt so schön: Das Bild des Hüters des Bruders versinnbildlicht eine visionäre Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens von Menschen. Ein jeder achtet auf den anderen, schaut, was er braucht, unterstützt und hilft ihm. Die aus dem biblischen Paradies vertriebenen Menschen werden zu Geschwistern, die Herrschaft Gottes bricht an …

Stopp, aufwachen … nein, so war es nicht. Wär ja ein schöner Traum gewesen.

Vielleicht wäre der Traum ja gelungen, wenn ich mich noch ein bisschen mehr bemüht hätte? Noch mehr Glauben gehabt hätte? Noch mehr auf den Anderen geschaut hätte? Und alle anderen auch auf mich – oder?

Nein, ich glaube nicht. Denn all der Glaube, all die Aktivität, all das „Brudergehüte“ entbehrte der Liebe. Es entsprang nicht dem Gebot „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, sondern der Frage nach der einzigen Wahrheit, die die Gemeinde gefunden zu haben glaubte. Und die musste umgesetzt werden. Mit aller Kraft und allem Glauben von Allen musste das doch gelingen, diese Wahrheit leuchten zu lassen … und wenn nun ein Bruder oder eine Schwester ein wenig nachhinkte, dann überlegten die Bruderhüter, wie man diesem hinkenden Geschwister aufhilft.

Als Kinder haben wir ein Lied gesungen, komponiert von einem Gemeindemitglied:      

„Ein kleines Schiff im Wind, das wünsch ich dir, mein Kind,

damit du fahren kannst ins Land der Träume.

Wo alles glücklich macht, wo selbst der Regen lacht,

wo Lahme springen, Stumme singen, Blinde schau‘n und Häuser bau‘n.

Ein Schiff im Wind.“

Ich habe dieses Lied sehr gemocht, denn diese Vorstellung, dass jeder seine Schwä­chen und Krankheiten verlieren kann, gepaart mit einer wunderschönen Melodie, sie wäre ja schön. Wäre. Wie aber sollte der Lahme zum Gehen gebracht werden?

Die Bruderhüter sprachen miteinander über den Lahmen, ersannen einen Plan für ihn – aber sie sprachen nicht in Nächstenliebe mit ihm, versuchten nicht im zugewandten Gespräch ihn zu verstehen, seine eigenen Quellen zu finden und zu fördern. Die einzige Wahrheit wollte umgesetzt werden, übersetzt auf diese Person. Anschließend teilten sie das Bruderhüter-Ergebnis mit. Biblisch geschult wusste der Lahme, dass er nur glauben muss und das tun, was Gott durch die Gemeinde zu ihm spricht, dann wird alles gut. Seine eigenen Empfindungen waren unwichtig, allein dieser Glaube zählt. Folglich versuchte er ab diesem Moment, das Bruderhüter-Ergebnis umzusetzen. Mit aller Kraft, oft so­gar unter Tränen. Aber er hatte verlernt, sich selbst wahrzunehmen, sich selbst zu lieben, es ging doch darum, die Wahrheit (die Gemeinde) zu leben und zu lieben. Die Frage, welche Bedürfnisse ein Mensch hat – also die Selbst- und Nächstenliebe – war auf die Frage nach dieser  Wahrheit reduziert.

Haben wir dann wenigstens Gott geliebt? Ich persönlich glaube, wir haben oft Gott mit der Gemeinde verwechselt. Die Gemeinde sollte strahlen, koste es, was es wolle. Wichtig war vor allem ihr Wachstum. Besonders, wenn es sich um hohe Kirchenmänner oder Leute aus anderen Ländern handelte, wenn jemand Journalist war oder Adliger, be­kennender Atheist, Maoist, Linksradikaler, Politiker, Professor, Künstler, Autor oder aus anderen Gründen der Gemeinde nützlich erschien, scheuten die Bruderhüter keinen Aufwand: Sie taten alles Erdenkliche, diesen Personen nahe zu kommen, ihnen ihre Wahrheit im wahrsten Sinne des Wortes schmackhaft zu machen.

Diese Menschen konnten tatsächlich glauben, Gottes Schönheit zu sehen. Was ihnen nicht gezeigt wurde: Die für andere zum Teil unzumutbaren Umstände, die zu all ihren Annehmlichkeiten führten. Was sie oft übersahen: Das Leid ihrer Kinder, die wie kleine Erwachsene in diesem System zu funktionieren hatten, – losgelöst von den Eltern, je nach Herkunft auch Kultur und Sprache, ihre Individualität verleugnen und ein Gemeinde-Ich aufbauen sollten.

War eines Tages die für die Gemeinde zu gewinnende Person diesem süßen Schein er­legen, kam oft der Tag, dass auch sie selbst im Bruderhüterregime herumkommandiert wurde. Sie wurde dann immer wieder darauf hingewiesen, wie viel Hilfe und Freude sie er­fahren hatte, wurde dadurch gefügig und nahm den ihr zugewiesenen Platz ein. Hätten die Bruderhüter eine echte Liebe zu Gott, zum Nächsten und auch zu sich selbst in sich getragen, hätten sie andere Wege im Umgang mit dem Anderen wie auch mit sich selbst finden müssen, denke ich. Aber die Liebe zu ihrer Wahrheit und zur Gemeinde war größer als alles andere, die Schäden an Menschen werden nur als Kollateralschäden betrach­tet, die nun mal beim Aufbau des Reiches Gottes entstehen ….

Ich weiß, das ist nur ein kleiner Bruchteil eines Erklärungsversuches. Aber ich denke, wenn wir viele Erklärungsversuche verbalisieren, aufschreiben und darüber ins Ge­spräch kommen, wird sich unser Horizont und Verständnis weiten.

 

Eine liebe Leserin hat mich darauf hingewiesen, dass am 31.10.2021 in den Vatikan News im Kommentar zum Evangelium  das „Tripelgebot der Liebe: das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe, ergänzt durch eine heilige und demütige Selbstliebe“ besprochen wurde.

Hier finden Sie diesen absolut lesenswürdigen Text zum Tripelgebot der Liebe

Lesen Sie auch den Beitrag von Hajo Kindler mit weiterführenden Gedanken zu diesem Text

 

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