Mein Credo zur Frage der Aufarbeitung

Warum ist eine Aufarbeitung notwendig?

Begreifen, was geschehen ist

Wie konnte es dazu kommen, dass dieser sicher bestgemeinte Versuch, das Christentum zu leben, so viele schlimme Früchte tragen konnte? Ich bin absolut überzeugt, dass niemand diesen Weg gegangen ist in der Absicht, anderen zu schaden – im Gegenteil. Heute fragen sich viele, warum sie nicht gemerkt haben, was alles passierte, warum sie nichts gesagt haben, warum sie dort überhaupt hingegangen sind etc.

Erkennen, Anerkennen und Ausgleich der Schäden

Viele Geschädigte leiden noch heute unter den Folgen ihres Lebens und Aufwachsens in der IG. Dies wird seitens derer, die sich als Nachfolger der IG sehen, im Allgemeinen nicht anerkannt, sie werden gerne kurzerhand als „Vergangenheitsbewältiger“[i] abgetan. Außenstehenden ist meist nicht klar, was diese Geschichte mit uns gemacht hat, welche Gefahren von solch totalitären Gemeinschaften ausgehen können.

Welcher Art sind diese Schäden?

Bereits vor vielen Jahren nahm sich ein Gemeindemitglied das Leben. Hätte das wirklich so weit kommen müssen? Ich glaube: Nein. Doch auch viele Jahre später noch ziehen gravierende Schäden in den Seelen mancher Ehemaliger verheerende Spuren. Für mich ist es z.B. kein Zufall, wenn sich ein ehemaliges Gemeindekind Jahre später das Leben nimmt. Auch nicht, dass andere darüber nachgedacht oder (wie ich) versucht haben, genau dies zu tun. Einige ehemalige IG-Kinder sind traumatisiert bzw. leiden an vielfältigen psychischen Problemen. Einige ehemalige Gemeindemitglieder, die aus freien Stücken zur IG kamen, leiden genauso unter psychischen Problemen und brauch(t)en z.T. (psychologische) Hilfe, ihr Mitleben in der IG zu verarbeiten, damals Erlerntes zu analysieren und zu verarbeiten.

Ein weiteres Problemfeld sind die Finanzen. Kredite, die dem Vermögensaufbau und -erhalt der IG dienten, mussten – oft auch nach dem Ausscheiden noch – abbezahlt werden, das Einkommen war oft über Jahrzehnte sehr gering. Altersarmut und finanzielle Probleme waren vorprogrammiert und „hatte und hat häufig langfristig existentiell prekäre Lebenssituationen zur Folge[ii]

Psychische wie finanzielle Schäden sind nur zwei Schlaglichter – dazu kommen viele weitere, höchst unterschiedliche Thematiken wie z.B. Kinderlosigkeit, mangelnde Berufsausbildung, soziale Probleme, ein Gottesbild, das mit Angst und Schrecken belegt ist … All diese Schäden müssen meines Erachtens benannt werden, benannt werden dürfen.

Wer bezahlt diese Schäden?

  • Zuallererst die Opfer,
    • die ihre Erfahrungen am eigenen Leib ausbaden müssen, in manchen Fällen lebens- und existenzbedrohend oder – zerstörend
  • sowie deren Familien.
  • Krankenkassen (Psychotherapien …)
  • Der Steuerzahler, z.B. über Sozial- und Rentenkassen

Für mein Verständnis müsste eine Gemeinschaft, die sich christlich nennen wollte oder will, zumindest für die Schäden, die sie angerichtet hat, Verantwortung übernehmen.

Prävention weiterer schwerer Schäden

Nun lässt sich nach tragischen Unglücken und psychischen Erkrankungen leicht irgendein Schuldiger (oder mehrere) ausmachen, das Problem in den Herkunftsfamilien, in irgendwelchen personengebundenen speziellen Umständen suchen. Daran glaube ich nicht bzw. nur sehr bedingt. Für mein Verständnis liegt die Zerrissenheit einiger Ehemaliger hauptsächlich in den Strukturen der IG, in dem, was wir zutiefst verinnerlicht haben. Diese Strukturen müssen dringend genau analysiert und benannt werden. Das könnte den Betroffenen helfen, ihre Situation besser zu verstehen, die Fehler nicht bei sich selbst zu suchen. Es gab genug Opfer – ich hoffe zutiefst, dass es nicht mehr werden. Deshalb flehe ich die Kirche aus tiefstem Herzen an: Helft uns! Leitet jetzt eine Aufarbeitung ein, bevor die Opferzahl sich erhöht! Wir schaffen es aus eigener Initiative heraus nicht, all diese Dinge zu begreifen, einzuordnen und angemessene Hilfe anzubieten.

Kirchengeschichtliche Relevanz

Auf Grundlage des Dekrets des Zweiten Vatikanischen Konzils über das Apostolat der Laien erhielt die IG ihre kirchliche Anerkennung als „apostolische Gemeinschaft“. Über viele Jahrzehnte galt sie als hoffnungsvoller kirchlicher Neuaufbruch, der vielseitig Beachtung erfuhr. Bedeutende Theologen lebten und arbeiteten für sie, Bischöfe und Kardinäle gingen hier ein und aus, insbesondere auch Kardinal Ratzinger, der später Papst wurde, galt als ihr Protektor. Im Oktober 2020 distanzierte er sich jedoch von ihr mit der Aussage, er sei „über manches im Innenleben der IG nicht informiert oder gar getäuscht“[iii]  worden, ihm sei zunächst nicht bewusst gewesen, dass „bei dem Versuch, die Dinge des täglichen Lebens integral vom Glauben her zu gestalten, dabei auch schreckliche Entstellungen des Glaubens möglich waren[iv]. Die Kirche wird sich fragen müssen, warum dieser Neuaufbruch nicht gelungen ist und warum sie selbst sich so lange hat blenden lassen.

Theologische Aspekte

Die Theologie prägte das Leben in der IG und das Leben in der IG die Theologie der dort beheimateten Theologen. Ich finde es unumgänglich, dass diese Gemeindetheologie in ihren für mein Verständnis zerstörerischen Elementen (z.B. „neue Familie“, das Ideal der Besitzlosigkeit, Gemeindeversammlung, Beichte …) sowie dahinter grundlegende theologische Vorstellungen (z.B. Moraltheologie, christliche Sozialethik, Pastoraltheologie …) wissenschaftlich betrachtet und aufgedeckt werden.

Klärung des Sektenbegriffes

Mit der Aufarbeitung der Theologie einhergehend sollte sich auch die Frage: War die IG eine Sekte? klären. Laut DWDS, dem Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, versteht man unter dem Begriff Sekte „eine selbstständige religiöse Gemeinschaft bildende, meist kleinere Gruppe von Menschen, die sich von der Glaubenslehre einer Kirche abgekapselt hat“[v]. Hat die IG noch in der Glaubenslehre der Kirche gelebt oder eine selbständige religiöse Gemeinschaft gebildet? Ich persönlich habe mich, solange ich in der IG lebte, weniger an die Kirche gebunden gefühlt, sondern dachte, direkt in der IG das Wort Gottes zu hören.

Geistlichen Missbrauch verstehen lernen und präventiv dagegen angehen

In der IG gab es geistlichen Missbrauch, ein Themenfeld, das erst langsam verstanden wird. Im Erkenntnisprozess dieses Themas wäre die IG für mein Verständnis geradezu eine Schatztruhe. Man müsste sie nur öffnen wollen und könnte die Mechanismen studieren. Anschließend könnte dieser Erfahrungsschatz Grundlage werden,  geistlichen Missbrauch zu erkennen und gegen ihn präventiv vorzugehen – eine grundlegende Hilfe für alle anderen Gemeinschaften heute und in der Zukunft.

Deshalb mein Credo

Ich bin in der IG aufgewachsen, habe darin gelebt, habe sie geliebt, dache, in ihr das Wort Gottes direkt zu hören, bin darüber krank geworden und hätte fast mein Leben verloren. Ich sehe heute das hinterlassene Trümmerfeld und die weiterschwelenden, mitunter explodierenden Trümmerstücke – deshalb kann ich nur, nein, muss ich mich für eine Aufarbeitung dieser Geschichte einsetzen. Generalvikar Domkapitular Prof. Dr. Peter Beer gab bei der 2. Begegnung der „Wege der Versöhnung“ am 14.01.2018 den Beteiligten das Schriftwort mit auf den Weg: „Die Wahrheit wird euch frei machen“. Zwar hat die Münchner Diözese eine Visitation in Gang gesetzt, ein erster, sehr guter Schritt zur Wahrheit, jedoch scheut sie bis jetzt davor zurück, eine „weitere wissenschaftliche Aufklärung und Aufarbeitung des entstandenen Schadens in der Kirche und des Leids der Betroffenen“, wie im Bericht der Visitatoren gefordert, einzuleiten.

Die Wahrheit ist vielschichtig und man kann sich ihr nur durch vielfältige Reflexion nähern. Ich weiß, dass „meine Wahrheit“ nur ein Teil davon ist, doch diesen Teil will ich geben und alle – auch diejenigen, die Positives über die IG zu berichten haben, bitten, sich diesem nicht zu verschließen bzw. daran mitzuarbeiten, sich diesem nicht zu verschließen bzw. daran mitzuarbeiten, sie zu einer vollständigen Wahrheit aufleuchten zu lassen.

Lesen Sie dazu auch das Credo von Thomas Schaffert zur Frage der Aufarbeitung

 

Dieser Text entspricht den Erfahrungen und Erlebnissen der Autorin. Die Website exigler.de distanziert sich von allen Missverständnissen und rechtlichen Verpflichtungen.

Wir bitten alle Betroffenen, sich auf die für sie geeignete Weise Hilfe zu holen. Besonders gut und wichtig wären weitere Berichte – wir bitten Euch darum.

 

 

[i] Vgl. https://www.vaticannews.va/de/kirche/news/2020-11/achim-buckenmaier-integriert-katholisch-gemeinde-kirche-d.html, aufgerufen am 19.10.2021

[ii] https://www.erzbistum-muenchen.de/cms-media/media-52305220.pdf, aufgerufen am 26.10.2021

[iii] https://www.herder.de/hk/hefte/archiv/2020/11-2020/der-gottesbeweis-die-fragwuerdigen-praktiken-der-integrierten-gemeinde-und-die-nachsicht-der-kirche/

[iv] Ebd.

[v] https://www.dwds.de/wb/Sekte, aufgerufen am 22.10.2021