Brief an Papst Benedikt emeritus

Neubiberg, den 1.11.2020

Sehr geehrter Vater Benedikt,

Sie werden sich sicherlich nicht an mich erinnern, aber: Ich habe Ihnen in Colle Romito, in dem Haus der IG dort, ca. im Jahre 1986 im Sommer, einst unter anderem Marillenknödel gekocht. Es hieß, Sie mögen sowas und ich sollte sie deswegen kochen. Sie könnten sich selbst auch im besten Willen nicht an mich erinnern, denn ich war nur in der Küche zu finden.

Aber deshalb schreibe ich Ihnen eigentlich nicht, sondern, weil ich heute in den „Katholischen Nachrichten“, im kath.net, in einem Artikel über die Integrierte Gemeinde gelesen habe, dass Sie gesagt hätten, dass Sie nicht sterben wollten, ohne die Klage der Opfer gehört und beantwortet zu haben. Dieser Satz hat mich sehr erschüttert und deswegen schreibe ich jetzt. Zuvor wurde dort geschrieben, es sei Ihnen nicht bewusst gewesen, „dass auch schreckliche Entstellungen des Glaubens“ in der „Integrierten Gemeinde“ möglich gewesen seien.

Seit gut einem Jahr hoffe ich darauf, dass die Visitation des Erzbischöflichen Ordinariats in München zu dem Entschluss kommt, dass eine Aufarbeitung der Geschichte der IG zustande kommt. Aber den neuesten Berichten zufolge hat die heutige Rest-IG wohl ihren Weg gefunden, sich der Situation zu entziehen und unter neuen Namen weiterzumachen.

Ich selbst bin seit Ostern 2012 (da brach aufgrund eines Triggers alles in mir durch) krank und arbeitsunfähig, es wurde eine komplexe Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, ich habe mehrere längere Klinikaufenthalte benötigt, habe zweimal versucht mich umzubringen weil ich mein Leben nicht ertragen konnte, und ein Hauptgrund hierfür ist, dass ich in der IG aufgewachsen bin, seit ich zwei Jahr alt war. Damals, 1971, dachte man dort, dass die Herkunftsfamilie aufzulösen sei in die „Neue Familie“, was meine Eltern dazu veranlasste, mich quasi an die IG abzugeben, was natürlich auch ganz praktisch ist: man muss sich nicht um seine Kinder kümmern, geht „wichtigen“ Dingen der IG nach (meine Mutter kochte unablässig, versorgte Haushalte, und mein Vater war damals für die Musik zuständig). Ich hab mal hier mal dort gewohnt, soweit ich mich erinnern kann, ca. zwei Wohnorte pro Jahr und zwei verschiedene Schulen im Schuljahr, bis meine Familie 1981 wieder nach Österreich zurückgeschickt wurde, vor allem, weil eine meiner Schwestern, vier Jahre älter als ich, ein sehr aggressives Verhalten aufwies, was nun meine Eltern alleine zurechtbiegen sollten. Inzwischen ist sie seit Jahrzehnten in psychiatrischer Behandlung und nicht fähig ein eigenständiges Leben zu führen. Sie hatte immerhin sechs Jahre Familienleben vor IG-Zeiten erlebt und von Anfang an ständig gegen die IG aufbegehrt. Meine Eltern konnten sie auch in Österreich nicht „einfangen“, sie entgleiste restlos und lebt seitdem in betreuenden Einrichtungen.

Bei mir war der Fall anders. Ich habe von klein auf gelernt, dass ich an einem besonderen Ort aufwachsen darf. Königskinder nannte man uns gerne mal. Und das verpflichtet: Wir Gemeindekinder haben die Gemeinde weiterzutragen, wenn wir das nicht tun, ist das eine besonders schwere Schuld, da wir ja wissen, an welch besonderen Ort wir sind im Gegensatz zu allen andren Menschen. Mit dieser eingeimpften Einstellung kämpfe ich auch heute noch sehr. Eigentlich sagt mein Inneres, darf ich mich niemals gegen die IG stellen und schlecht über sie reden, nicht mal denken oder gar schreiben. Wenn dann bin ich schlecht, ungläubig. Gehirnwäsche nennt das meine Psychotherapeutin.

Ich „durfte“ dann als ich fünfzehn war, mit meinen Eltern wieder nach München zurück (beschriebene Schwester war „aus dem Haus“, kurz vor ihrem endgültigen nervlichen Zusammenbruch) und ich absolvierte in der IG eine Haushaltslehre, in dieser Zeit habe ich Sie auch in Colle Romito bekocht. Aber man hätte auch sagen können: ich habe meist sieben Tage die Woche Frühstück, Mittag- und Abendessen organisiert/gekocht, Putzen, Waschen …einfach alles Nötige gemacht, gearbeitet von früh bis spät. Dies war notwendig, um die Integrationshäuser aufrecht zu erhalten. Anfangs, als ich noch 15, auch 16 oder 17 Jahre alt war, fühlte ich mich häufig stark überfordert, weil ich nicht wusste, wie ich all meine Aufgaben bewältigen sollte, hatte ich anfangs doch wenig Erfahrung und nur das Bayerische Kochbuch zur Hand. Nur zeitweise hatte ich ein „Lehrfrau“, eine erfahrene Hausfrau an der Seite. Meine Therapeutin sagt heute: Kinderarbeit. Und das Ganze verbrämt mit dem Glauben: Dienen dürfen ist das Höchste! Aber warum mussten immer die einen dienen während die anderen gemütlich am Tisch saßen? Warum gehört es zum Glauben, dass man keinen eigenen Willen, keine Wünsche, keine Empfindungen, keine eigene Wahrnehmungen, keine Gefühle, keine Bedürfnisse, kein Eigenleben in irgendeiner Weise haben durfte? Jederzeit zum Umziehen bereit sein, Arbeitseinsätze wie auch immer gefordert, nie wissen was warum kommt und die ewige Angst nicht zu genügen, in der Gemeindeversammlung oder sonstwie verurteilt zu werden und dabei niemals eine kritische Frage stellen zu dürfen. Dies widerspräche, wie mir von früh auf in der Gemeinde eingeimpft wurde, dem Glauben, man wandte sich nach IG-Sicht damit gegen den Heiligen Geist, und das will man ja auch nicht. Ich habe immer versucht, diesen Spagat zu vollziehen, aber es ist mir nie gelungen und ich bin immer an mir verzweifelt. Warum durfte sich ein junger Mensch nicht verlieben ohne Genehmigung, warum waren diese Gemeindeversammlungen so schrecklich, wo einzelne bis ins Letzte verurteilt, vielleicht sogar aus der Gemeinde ausgeschlossen wurden? Das passierte meiner anderen Schwester: Sie wurde mit ca. 21 Jahren schlagartig ausgeschlossen, sollte innerhalb von drei oder fünf Tagen ausgezogen sein. Aber wohin so schnell? Wohin, wenn es vorher verboten war, Kontakte außerhalb der IG aufzubauen, wenn man nie erfahren hat, außerhalb der IG zu arbeiten, Kontakte mit „normalen“ Menschen zu knüpfen, zu wohnen, zu sein? Können Sie sich ihre damalige Not vorstellen? Und mir war damals nicht einmal klar, was es bedeutet: sie ist meine Schwester – ich hatte ja unendlich viele Schwestern, Brüder, Eltern, … in der Gemeinde, ich war paradoxer Weise innerhalb dieser Fülle an Personen absolut beziehungslos aufgewachsen. Und ich dachte immer, dass es an mir liegt, dass ich damit nicht zurechtkomme.

Ich könnte Ihnen noch viel über mein Aufwachsen in der IG scheiben, aber eigentlich reicht ein trauriger, ernüchternder Satz: alles, was ich in bisher an von „Ehemaligen“ veröffentlichten Beiträgen gelesen habe, ihre Leiden, sie sind leider wahr, so ist meine persönliche Erfahrung.

Ich finde es unheimlich hart, dass anscheinend die IG sich nun einer Aufarbeitung ihrer Geschichte entziehen kann indem sie kurzerhand unter einem anderen Namen agiert. All das Leid vieler wird einfach negiert. Ich würde auch gerne arbeiten, mein eigenes Geld verdienen, ein normales Leben führen. Eine Resettaste drücken so wie es die Rest-IG gemacht hat. Aber ich bin arbeitsunfähig und psychisch krank. Krank aufgrund der schrecklichen Entstellungen des Glaubens in der IG, wie Sie laut kath.net so treffend sagten. Und die IG hatte immer das Totschlagargument gegen alle Fragen: Die IG ist von der Kirche anerkannt und rechtgläubig katholisch.

Wenn Sie noch Fragen haben, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung, ich kann Sie auch jederzeit besuchen kommen, solange die Grenzen offen sind. Es geht mir wirklich nicht darum die IG zu verunglimpfen, aber ich finde, dass die Wahrheit ausgesprochen werden dürfen sollte. Wenigstens jetzt endlich.

Noch ein kleiner Freudenfunke: Als Sie zum Papst ernannt wurden, habe ich gerade in unserem Garten ein Pfaffenhütchen gepflanzt. Damals habe ich mich sehr für Sie gefreut und es als Ihres empfunden, das Ratzinger-Pfaffenhütchen. Das gedeiht sehr prächtig und hat momentan schöne Früchte.

Und noch eine kleine „Anekdote“, eine meiner frühesten Erinnerungen: Als ich ca. fünf Jahr alt war, wohnte ich vorübergehend mit meinen Eltern in einer Wohnung im Allgäu. Frau Wallbrecher wollte mit meinen Eltern sprechen und Ludwig Weimar hatte wohl den Auftrag, mich zu bespaßen. Er spielte mit mir mit einem Hand-Holzkrokodil. Ich kann mich noch so gut daran erinnern, er hat das offensichtlich für mich sehr beeindruckend gemacht. Leider hatte ich dann aber immer Albträume, dass das Krokodil mich frisst.

Ich grüße Sie sehr herzlich,

Gudrun Mann

 

Die Antwort auf diesen Brief war kurz vor Weihnachten eine Standard-Weihnachtskarte, Bildchen von Benedikt und ein Heftchen: „Pendlinger Predigten“

 

Dieser Text entspricht den Erfahrungen und Erlebnissen der Autorin. Die Website exigler.de distanziert sich von allen Missverständnissen und rechtlichen Verpflichtungen.

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