Zweiter Brief an Kardinal Marx und Generalvikar Klingan

Herrn Erzbischof

Reinhard Kardinal Marx

Postfach 33 03 60

80063 München

 

Bitte um klare Worte der Kirche zur Aufarbeitung des durch die KIG verursachten Geistlichen Missbrauchs und die heutige Rolle ihrer Priester

                                                                           Neubiberg, den 3.8.2021

 

Sehr geehrter Herr Kardinal Marx, sehr geehrter Herr Generalvikar,

vielen Dank für Ihre sehr zugewandte, persönliche Antwort, die mir über den Herrn Generalvikar Klingan übermittelt wurde. Es freut mich zudem sehr, dass Sie – zumindest in meinem Fall – eine unabhängige Ansprechperson beauftragt haben, sexuellen Missbrauch, der innerhalb der IG geschehen ist, anzuschauen, herzlichen Dank dafür!

Ich wende mich nun erneut an Sie, da ich das Hirtenwort von Ihnen, Herr Kardinal,  vom 23.7.2021 aufgreifen möchte. Sie schrieben:

Einschneidend bleibt für mich die Erkenntnis, dass im Raum der Kirche so viele Menschen Unheil und Leid erfahren haben und nach wie vor daran schwer tragen. Dazu gehört der sexuelle Missbrauch. Es ist unerlässlich und zugleich eine Herausforderung, dass wir den Opfern und Betroffenen zuhören und von ihnen lernen dürfen. Erst in jüngerer Zeit beginnen wir zu verstehen, dass und wie sehr sexueller Missbrauch und Gewalt auch Konsequenzen für das Leben von indirekt Betroffenen haben, etwa in den Familien oder auch in unseren Gemeinschaften und Pfarreien.“

Geistlicher wie sexueller Missbrauch können sich gleichermaßen verheerend für das Leben der Menschen, die ihn erlitten haben, auswirken. Auch bei geistlichem Missbrauch müssen indirekt Betroffene leiden. Wie Sie wissen, bin ich z.B. seit neun Jahren an einer komplexen PTBS erkrankt, die durch mein Aufwachsen in der IG verursacht wurde. Diese Jahre waren für mich ein Wandeln zwischen Leben und Tod – ohne Licht, ohne Freude, ohne echtes Lachen, ohne Kraft… Meine Kinder waren 15 und 14 Jahre alt, als diese Krankheit ausbrach. Können Sie erahnen, was das für sie bedeutet hat, dass ihre Mutter zwar physisch am Leben, aber nicht lebendig war? Was das für meinen Mann bedeutet hat, der mich nach einer ungewissen Nacht, in der ich nicht mehr auftauchte, in einer Klinik fand, wo ich wegen eines Selbstmordversuchs behandelt wurde? Wie das auch ihre Einstellung zur katholischen Kirche beeinflusst, wenn sie sehen, wie alleine ich – und andere – dastehen?

Ich wurde geistlich und sexuell missbraucht. Der sexuelle Missbrauch ist aber definitiv nur das „Düpfelchen auf dem i“. Daher ist aus meiner Sicht die Aufarbeitung des geistlichen Missbrauchs mindestens so wichtig wie die des sexuellen Missbrauchs. Verzeihen Sie, wenn ich es so direkt ausspreche: Die Kirche verpasst eine Chance, wenn sie die Aufarbeitung geistlichen Missbrauchs in weite Ferne schiebt und erweckt bzw. bestätigt dadurch den Eindruck, dass sie sich nicht ändern will, nicht offen und ehrlich sein will, dass sie lieber versucht, sich selbst zu schützen, als das Leid der Betroffenen anzuerkennen.

Bereits am 3.4.1973 äußerte der damalige Generalvikar Dr. G. Gruber Bedenken bezüglich der IG – er führte „die Beeinträchtigung der Freiheit der Mitglieder, Trennung von Familien, berufliche und finanzielle Abhängigkeit und die unchristliche Behandlung Ausgetretener“ auf, wie im Zwischenbericht der Visitation zu lesen ist.

Diesem Hinweis wurde damals nicht nachgegangen – stattdessen die IG 1978 kirchlich anerkannt! Meine persönliche, heutige Sicht auf die Dinge: Wäre 1973 die Information des damaligen Generalvikars ernst genommen und das Jugendamt informiert worden, hätte zumindest für die Kinder unendlich viel Leid verhindert werden können.

Der Offizial Dr. Lorenz Wolf verfasste, laut Zwischenbericht, am 5.10.2000 eine Vorlage, in der er Missstände auflistete: „Missbrauch des Bußsakraments, unwürdiger Umgang mit den eucharistischen Gaben, Verhältnis zum Sakrament der Ehe sowie besorgniserregende wirtschaftliche Verhältnisse der Mitglieder und Gläubigen mit anderen Zugehörigkeitsformen. Außerdem sei die KIG der Aufforderung des Münchner Erzbischofs vom 28. Juli 1999, ihm als zuständigem Diözesanbischof ‚ohne Vorbehalte die inneren und äußeren Verhältnisse der Integrierten Gemeinde offen zu legen’, nicht nachgekommen!“

Zudem verweist der Zwischenbericht auf 164 Seiten der „Kanonistische(n) Stellungnahme zu Fragen um die Katholische Integrierte Gemeinde von Prof. Dr. Heribert Schmitz vom 10. Dezember 2004“, die „rechtserhebliche Mängel beim Ausschluss von Mitgliedern“ offenlegen.

Auch in der Presse fanden sich Hinweise auf Probleme innerhalb der IG, so z.B. am 7.5.1998 in dem Artikel der „Furche“, einer österreichischen Wochenzeitschrift.

Alle Warnungen ignorierend, wurde erst am 14. Februar 2019 die Visitation in Auftrag gegeben. Der am 19.11.2020 veröffentlichte Visitationsbericht endet mit den Worten: „Weitere wissenschaftliche Aufklärung und Aufarbeitung des entstandenen Schadens in der Kirche und des Leids der Betroffenen tun not.“

Ich frage mich, warum wird das nicht wenigstens jetzt umgehend umgesetzt? Sehr geehrter Herr Generalvikar Klingan, Sie schieben mir am 22.7.21: „Um der komplexen und unsere Erzdiözese weit übersteigenden Thematik des geistlichen Missbrauchs gerecht zu werden, fand bereits im März dieses Jahres auf unsere Initiative eine erste Konferenz auf Ebene der Deutschen Bischofskonferenz statt. Im weiteren Verlauf wird sich sicher auch klären, ob die Aufarbeitung der Geschehnisse in der KIG in einem überdiözesanen Rahmen erfolgen muss und kann.“ Sehr geehrter Herr Kardinal Marx, ich finde es wirklich sehr gut, dass Sie diese Konferenz in Gang gesetzt haben, aber wie viele Konferenzen werden stattfinden müssen, wie viele Jahre vergehen, bis eine überdiözesane Einigung auf dem Tisch liegt?

Nur Sie allein haben es in der Hand, sich gänzlich der Wahrheit zu verpflichten und eine Aufarbeitung einzuleiten, hier, vor Ort, in München. Hier hatte die IG ihren Anfang, hier haben die meisten Mitglieder und ihre Kinder über Jahrzehnte gelebt und gelitten. Die Münchner Diözese selbst verfügt über umfangreiche Dokumente zur IG, sie ist diesbezüglich nicht auf andere Diözesen angewiesen. Ein solcher Schritt der Offenheit wäre ein Befreiungsschlag mit Signalwirkung, auch zur Ermutigung anderer Diözesen. Vor allem wäre es ein extrem starker Schritt, der sicher vielfach geachtet und beachtet würde, da die Münchner Diözese es zuließe, diözesane Geschehnisse der letzten Jahrzehnte hinterfragen zu lassen. Zudem sehe ich durch die Aufarbeitung der Geschehnisse in der IG die enorme Chance, geistlichen Missbrauch besser zu verstehen und Ansätze zu finden, um in Zukunft konkret gegenwirken zu können. So könnte die konkrete Geschichte der IG dazu dienen, Maßnahmen zur Prävention geistlichen Missbrauchs in andern Gemeinschaften zu finden. Ich frage mich, werden Sie diesen mutigen Schritt wagen?

(…)

Voller Hoffnung verbleibe ich mit freundlichen Grüßen,

Gudrun Mann

 

Dieser Text entspricht den Erfahrungen und Erlebnissen der Autorin. Die Website exigler.de distanziert sich von allen Missverständnissen und rechtlichen Verpflichtungen.

Wir bitten alle Betroffenen, sich auf die für sie geeignete Weise Hilfe zu holen. Besonders gut und wichtig wären weitere Berichte – wir bitten Euch darum.