Meine Grundschulzeit

Alter: 6 – 10 Jahre

Als ich 2012 an der komplexen PTBS erkrankte, die ich aufgrund meines Aufwachsens erworben habe, sollte ich in Psychotherapie gehen. Die Therapeutin wolle, dass ich ihr von meiner Kindheit erzähle. Mir fiel überhaupt nichts ein, ich hatte keine Erinnerungen, nur die tiefste Überzeugung, dass „alles gut“ war. Ich versuchte anhand von ein paar übriggebliebenen Zeugnissen und Erinnerungsfetzen mein Leben zu rekonstruieren. Aufgrund der vielen Umzüge in immer wieder neue Konstellationen und der unzähligen Brüche in meinem Leben als Kind gibt es keinen sich durchziehenden Faden in der Erinnerung, sondern nur lauter Schnipsel, die ich seither versuche, in eine Chronologie zu ordnen. Langsam kamen Erinnerungen an Integrationshäuser in denen ich lebte, und darüber fanden sich zunehmend Erinnerungen an Menschen, die dort ebenfalls wohnten. Mit der Zeit fielen mir nach und nach Ereignisse und auch Emotionen ein. Aber ich kann nicht in jedem Detail sicher sagen, dass die Zeitangaben zu 100 % richtig sind.

Das erste Schuljahr brachte mir umzugsbedingt zwei Schultüten, wer hat schon dieses Glück? Zu meinen zweiten Schulstart lebte ich in einem Haus mit vielen Kindern: Gemeindekinder und zeitweilig auch Kinder, die – glaube ich – von Gemeindemitgliedern als Pflegekinder aufgenommen wurden und nun zu dieser Gruppe hinzugekommen waren. An ein solches Pflegekind kann ich mich gut erinnern, denn sie zwickte mich immer, wenn sie dabei nicht gesehen wurde und ich durfte nicht über sie schimpfen, da sie irgendwie eine Sonderstellung hatte. Sie wusste das gut zu nutzen und ich hatte Angst vor ihr. Unsere Erzieherin erlebte ich einerseits als sehr streng und sie setzte mir gegenüber mitunter körperliche Gewalt ein, wovor ich mich fürchtete. Andererseits konnte sie wunderschöne Märchenfeste organisieren. Bei denen spielten wir ein Märchen nach und lebten richtig in diesem Märchen. Das ist die eine tolle Erinnerung an meine Kindheit, die ich nie vergessen hatte, quasi das Highlight meiner Kindheit. Später hörte ich, dass es nicht gut gewesen sei, dass sie Märchenfeste spielte – sie hätte biblische Texte auswählen sollen.

Meine zweite schöne Erinnerung, auch aus dieser Zeit, ist das Skifahren. Ein Gemeindemitglied, Sportlehrer, sammelte gelegentlich alle Kinder zusammen, organisierte für alle Skiausrüstung und eine Busfahrt und brachte uns das Skifahren bei. In späteren Jahren lernte ich, dass Skifahren in der IG meist nicht respektiert war, eine Betätigung nur für Leute außerhalb der Gemeinde. Dafür gab es neben all den vielen wichtigen gemeindlichen Beschäftigungen eigentlich keine Zeit.

Wie gesagt, wechselte ich in der Grundschulzeit regelmäßig die Schule, zudem klaute ich gerne Geld und Süßigkeiten und in der dritten Klasse nahm ich einem Mitschüler regelmäßig sein Geld weg, denn ich wollte auch gerne wie die anderen Kinder mir etwas am Schulkiosk kaufen. Zu dieser Zeit lebte ich in einer Kleinstadt und hier kommt die dritte tolle Erinnerung aus meiner Kindheit: Mittags hatten wir Gemeindekinder eine „Freizeit“, die wir selbst gestalten durften. Wir legten unser spärliches Geld zusammen und kauften uns Zigaretten, die wir besonders gerne im Dunkeln des Innenbereiches unter einer Brücke rauchten.  

Ich wollte damals aufgrund des Religionsunterrichts gerne Ministrantin werden, aber irgendwie verständigten Pfarrer und meine Betreuer sich, dass dies für ein Gemeindekind keinen Sinn macht, wahrscheinlich, weil klar war, dass ich bald wieder wegziehen würde. Zudem gingen wir – glaube ich – auch nicht in die Kirche.

Die vierte Klasse absolvierte ich in einer von Gemeindemitgliedern geführten Schule, die gerade das erste Jahr geöffnet hatte. Das war für mich eine besonders unangenehme Zeit. Nach dem Unterricht, wenn alle anderen Schüler heimgingen, musste ich immer das Klassenzimmer saugen, mit einem riesigen Industriestaubsauger. Da wurde ich von den Klassenkameraden natürlich ziemlich schräg angeschaut und überhaupt war ich ihnen gegenüber für alles schuldig, was ihnen an der Schule nicht gefiel, da ich ja irgendwie dazugehörte. Mein Vater unterrichtete dort auch – meine Mitschüler mochten ihn nicht. Ich prügelte mich mit Mitschülern um meinen Vater zu verteidigen, obwohl ich ihn selbst abgrundtief hasste, und anschließend war natürlich stets ich die Schuldige – ich hätte es besser wissen müssen und mich nicht in Schlägereien einlassen dürfen. Selbstverständlich wurde mir gesagt, um welche Kinder ich mich kümmern sollte – Schüler, deren Eltern die IG interessant fanden oder solche, die aus anderen Gründen Unterstützung brauchten. Diese Aufgabe hatte ich als Gemeindekind so verinnerlicht, dass ich sie so gut ich konnte erfüllte.

Natürlich war meine Klassenlehrerin ein Gemeindemitglied, sie wusste alles über mich, auch meine peinlichsten Geheimnisse und es kam schon vor, dass sie, vermutlich unbewusst, vor der Klasse darüber redete. Ich schämte mich so sehr vor den Mitschülern – wegen mir selbst und den Lehrern. Die Klasslehrerin war sehr akkurat und ich lernte (nicht nur von ihr) aufs Wort zu gehorchen. So kam es, dass ich und soweit ich mich erinnern kann, auch andere gleichaltrige Gemeindekinder in der 5. Klasse Gymnasium in der ersten Ex prompt eine 6 bekamen: Die Lehrerin sagte: „Schreib auf!“ und diktierte leichte Einmaleinsaufgaben. Brav wie ich war schrieb ich die Aufgaben auf, freute mich, wie leicht sie sind und wie toll es wäre, sie nachher zu lösen, wenn die Lehrerin das sagen würde. Aber sie sammelte gleich nach dem „Diktat“ die Blätter ein und konnte nicht nachvollziehen warum wir keine Ergebnisse dazugeschrieben hatten. So lernte ich, dass ich nicht überall so sehr aufs Wort gehorchen sollte wie ich es eigentlich verinnerlicht hatte.

 

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