Meine Eltern – zutiefst liebe ich sie immer noch

 

Wie vielfach beschrieben, fühlte und fühle ich mich als ein „Gemeindekind“, die IG war mein Elternhaus, ich hatte somit viele Eltern und Geschwister. Meine leiblichen Eltern empfand ich nicht als „Eltern“, ich hatte keine echte Bindung an sie und ich glaube, sie hatten ihre Elternschaft im Sinne der „neuen Familie“ bewusst und gut gemeint an die IG übertragen.

Soweit schien ja alles geklärt für mich damals … aber im Alter von ca. 23 Jahren lebte ich für ein paar Monate in einer Stadt in Nordrhein-Westfalen in einer Integrationswohnung mit Integrationshauseltern und mehreren jungen Personen. Während dieser Zeit hatte ich gelegentlich ein sehr seltsames Gefühl: Es war, als könnten diese Integrationshauseltern, insbesondere der männliche Part, ich nenne ihn hier „Dalibor“ (slawisch; meint Kampf, Ferne) mir ein Stück Geborgenheit geben, nach der ich mich immer gesehnt hatte. In meinem Zimmer lauschend freute ich mich, etwas von ihnen zu hören, wenn die beiden z.B. spät in der Nacht heimkamen und die Mäntel in der Garderobe aufhängten. Da hüpfte auf einmal mein Herz vor Freude und ich verstand nicht warum. Gleichzeitig fühlte ich mich von diesem Gefühl absolut abgestoßen, ich wollte es nicht haben, wollte Distanz, hatte Angst vor dieser Nähe, genauso aber eine tiefe Sehnsucht nach echter Bindung, die ich aber gar nicht hätte eingehen können, weil ich ihr zutiefst misstraute. Dafür hatte ich bereits viel zu viele Bindungsabbrüche in meiner Kindheit erlebt. Viele Jahre später gab ich meiner ersten Tochter den Namen von Dalibors Tochter, so tief hatte mich diese kurze Erfahrung getroffen.

Heute würde Dalibor mich vermutlich siezen, um mir die unüberbrückbaren Lebensanschauungen und IG-Betrachtungsweisen zu verdeutlichen – sofern er überhaupt mit mir reden wollte. Ich fürchte, er denkt, dass ich mit Füßen auf der IG herumtrample und somit auch auf seiner Person. Das ist nicht mein Ziel. Die meisten Kinder suchen Frieden mit ihren Eltern, egal wie schwierig das Verhältnis war und ist. Ich persönlich wünsche mir nichts mehr als Versöhnung, dazu gehört aber auch, dass meine „Eltern“ mir einmal zuhören und ein wenig versuchen mich zu verstehen. Nicht nur ich bin schwer verletzt aus dieser Familie entsprungen, ich habe viele IG – Geschwister, die ebenfalls zum Teil schwer verwundet sind sich über eine Antwort freuen würden, wie es dazu kommen konnte. Aber nicht diese Antwort, die in etwa heißt: Hättest Du der IG wirklich vertraut, wärest du jetzt gesund und glücklich.

In meiner Familie wurde vielen Menschen geholfen, auch Krankheiten geheilt, andere sind krank geworden in ihr. Ich glaube nicht, dass diese intensive Zeit, diese Jahrzehnte, die wir gemeinsam erlebt haben, weggewischt werden können wie ein bisschen Staub. Sie lebt in all unseren Herzen weiter.

Ich glaube nicht, dass mein damaliger insgeheimer Wunschvater Dalibor und viele andere auch, in sich böse sind oder etwas aus böser Absicht getan haben, sondern so gehandelt haben, wie sie dachten, dass es am Besten ist. Ich verurteile keine Person oder hasse sie. Ich wünsche mir, dass sie mich nicht als Feind betrachten, weil ich meine Erfahrungen, meine persönliche Wahrheit aussprechen möchte.

Ich persönlich glaube, dass wir ein strukturelles Problem hatten und fände es ungemein spannend, dies zu ergründen, denn auch andere Gemeinschaften müssen sich überlegen, wie sie es schaffen, ein gesundes, wertschätzendes Miteinander zu finden – da sind unsere Erlebnisse ein wunderbarer „Erfahrungsschatz“.

 

Dieser Text entspricht den Erfahrungen und Erlebnissen der Autorin. Die Website exigler.de distanziert sich von allen Missverständnissen und rechtlichen Verpflichtungen.

Wir bitten alle Betroffenen, sich auf die für sie geeignete Weise Hilfe zu holen. Besonders gut und wichtig wären weitere Berichte – wir bitten Euch darum.